Der Schatten

Als die Menschen vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, erkannten sie, dass alles zwei Seiten hat, und sie suchten nun in allem die zweite Seite. 

 

Da sie nackt waren, legten sie den Begriff bekleidet fest, dem Tag stellten sie die Nacht gegenüber, der Wärme die Kälte, dem Wohl das Übel und dem Licht den Schatten.

 

So begann mit der Erkenntnis auch das unheilvolle Unterscheiden, das Beurteilen in gut und schlecht. Das Gute wurde dem Tag und dem Licht zugeordnet, das Schlechte der Nacht und dem Schatten. 

 

Da sagte GOTT: „Ich habe den Tag geschaffen und die Nacht und beide sind gut. Hört, was ich euch zu sagen habe. 

 

Die Menschen werden das Licht lieben und den Schatten hassen. Solange sie aber das tun, wird das Paradies ihnen verschlossen bleiben. Erst wenn sie euch wieder als Einheit annehmen, dich, Schatten, lieben wie das Licht, werden sie sich auch selbst wieder als eins mit mir erkennen. Denn sie haben sich von mir getrennt. 

 

Aber so wie der Schatten nicht ohne Licht sein kann, so kann auch der Mensch nicht ohne mich sein. So wie immer ein Schatten sein wird, wo Licht ist, so bin ich, wo der Mensch ist.“

 

Die Menschen verließen das Paradies und nahmen alles Sichtbare mit, sie teilten die Welt in das Sichtbare und in das Unsichtbare. Vor dem Unsichtbaren begannen sie sich zu fürchten. Die Nacht und Dunkelheit und auch der Schatten war ihnen unheimlich. Deshalb bemühten sie sich, das Dunkel und den Schatten zu vertreiben.

 

Der Schatten war darüber traurig, und obwohl das Licht ihn Freund nannte, wollte es ihm bei den Menschen nicht mehr gefallen. Er wurde still und zog sich zurück. Die Menschen aber verlernten, recht zu unterscheiden. Nur wenige hörten den Schatten noch, wenn er als Gewissen zu ihnen redete oder sich über ihr Herz legte, so dass sie seinen Druck spürten. Sie hörten und spürten ihn auch nicht mehr, weil es auf der Welt inzwischen sehr laut und hektisch zuging. 

 

Der Schatten hatte bald das Gefühl, völlig überflüssig geworden zu sein. Nur seine Äußerlichkeit war den Menschen noch angenehm. Wenn die Sonne zu stark auf die Erde brannte, suchten die Menschen den Schatten, in ihrem Inneren aber, als Teil ihrer selbst, nahmen sie ihn nicht mehr wahr. 

 

Da sagte der Schatten eines Tages zum Licht: „Ich gehe weg! Ich lasse aber meine Hülle bei dir, dann werden es die Menschen nicht einmal bemerken.“ Er wusste sehr wohl, dass er sich nie ganz vom Licht würde trennen können. 

 

„Wo willst du hin?“ fragte das Licht. 

 

„Ich gehe in das Herz der Menschen. Ihr Herz nehmen die Menschen auch nicht mehr wahr als das, was es ist. Es ist für sie eine Pumpe geworden. Jeder aber, der sich wieder auf sein Herz besinnt, wird auch mich wieder finden.“ 

Und so geschah es. Der Schatten zog sich in das Herz der Menschen zurück und verharrte da schweigend und regungslos. Die Menschen veränderten sich dadurch natürlich, wussten aber nicht warum. Einige schlaue Menschen erfanden ein Wort für das, was da passiert war. Sie nannten es Verdrängung und in schlimmen Fällen machten sie eine Krankheit daraus. 

 

Den Menschen fehlte etwas.

 

Wenn einem etwas fehlt, so sagten die Leute früher, dann geht man zu einem Arzt. „Was fehlt Ihnen?“ fragt dann der Arzt, gibt einen Rat und man wird wieder gesund.

 

Die Ärzte aber hatten den Schatten auch verdrängt, und so interessierte sie nicht mehr, was ihren Patienten fehlte, sondern sie gewöhnten sich an zu fragen: „Was haben sie denn?“ Und das nahmen sie ihren Patienten dann weg. Mit einer Tablette verscheuchten sie die Kopfschmerzen, aber auch die Träume, und mit jedem neuen Rezept leider auch ein Stück Eigenverantwortung.

 

Und so wurden die Menschen ärmer. Den Schatten aber vermisste und suchte niemand.

 

Nach außen sah es so aus, als würden die Menschen immer reicher, doch das war nur materieller Reichtum. An Empfinden wurden sie ärmer, denn nach und nach zogen sich auch andere Gefühle ins Herz der Menschen zurück.

 

Das Mitgefühl spürte die Missachtung zog sich zurück und überließ den ganzen Platz den hohlen Worten des Mitleids. Der Egoismus wuchs, die Gier wurde stark, denn sie mussten den Platz nicht mehr mit der Nächstenliebe und der Großzügigkeit teilen, als diese sich zum Schatten gesellten. Verstand, Vernunft und Wissen wurden übermächtig, dafür nahmen Weisheit, Intuition und Spiritualität ab. Viele Gefühle hatten Zuflucht im Herzen der Menschen gesucht. Bald war das Herz überlastet. Es wurde eng in ihm, oft konnte es die Lasten nicht mehr tragen und brach zusammen.

 

Die Menschen nennen es Herzinfarkt.

 

Nicht alle überleben, aber viele, denen es vergönnt ist, beginnen sich Gedanken über das Leben und seinen Sinn zu machen. Und sie spüren Dankbarkeit für das wieder geschenkte Leben in sich. 

 

Die Dankbarkeit ruft die Großzügigkeit zurück, weil die Menschen nach Besitz und Status nicht mehr gieren.

 

Die Stille nimmt ihren Platz zwischen der Hektik und dem Stress wieder ein, denn beides wird von diesen Menschen vermieden.

 

So wird es langsam wieder leerer in diesen Herzen. Das Leben aber wird für diese Menschen reicher. Sie nehmen Erfahrungen an und speichern sie nicht nur als Wissen, sondern paaren sie mit Weisheit. 

 

Wenn am Ende nur noch der Schatten im Herzen übrig ist wird die Liebe den frei gewordenen Platz einnehmen.

 

Und da die Liebe leuchtet, ist Licht im Herzen der Menschen. Und der Schatten nennte dieses Licht seinen Freund.

 

Die Menschen aber, die ihren Schatten mit der Liebe ihres Herzens anschauen, werden erkennen, dass der Schatten ihnen Helfer ist. Hilft er ihnen doch durch seine leise warnende Stimme, ihr Verhalten zu überdenken und wenn nötig zu ändern. 

 

Die Magenkranken lernen, dass Verdrängen krank macht. Wem die Galle überläuft lernt, dass er seinen Zorn nicht speichern soll. Wer Kopfschmerzen hat lernt, dass er den Kopf zu voll hat und wer Rückenschmerzen hat, dass er sich zuviel auf seine Schultern geladen hat. 

 

Sie alle lernen ihre Schattenseiten mit dem Licht der Liebe anzunehmen.

 

Jetzt müssen nur noch die Ärzte wieder lernen, Krankheit und Tod nicht als Feind, sondern als Chance zu erkennen. Den Patienten nicht von einem Symptom zu heilen, sondern ihn zu lehren, dass Symptome eine Gnade sind. 

 

Denn sie sind es, die den Menschen innehalten lassen, als ersten Schritt auf dem Weg zur Gesundheit.

 

© Lieselotte Stadtfeld, Oktober 1997

 

Diese Geschichte können Sie sich auch, von mir selbst gesprochen, 

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