Drumherumgeschichten


Auf dem Gipfel

Sie hatten den Aufstieg geschafft. Endlich! Freude, ja Übermut übermannte sie, als sie um ihren Wimpel tanzten, den sie aufgestellt hatten, sich umarmten, laut sangen, ihre Arme gegen den Himmel reckten und sich wie Helden, richtige Helden fühlten. Dann sanken sie erschöpft zu Boden und blieben eine Weile liegen.

 

In jedem stiegen Gedanken auf, Gedanken an die Gefahrenmomente des Aufstiegs, die Augenblicke der Angst, der Verzagtheit, des Zorns, aber auch der Hoffnung und des Ehrgeizes. Sie dachten an die Nacht unter dem Felsvorsprung, wo sie dicht aneinander gekauert den Sturm abwarten mussten und am liebsten umgekehrt wären. Aber die Sonne am nächsten Tag hatte sie geradezu herausgefordert, nicht aufzugeben. Da unten hatten sie das Beten wieder gelernt.

 

In Gedanken gingen sie bis zur Zeit der Vorbereitung zurück. Sogar bis hin zu dem Abend, als sie den Entschluss gefasst hatten, diesen Berg zu besteigen. Jetzt kam ihnen diese Zeit unendlich weit weg vor.

 

„Wie fühlst du dich?“, fragte Franz seinen Gefährten Alfred nach einer langen Zeit der Stille.

„Ich weiß es nicht!“, antwortete Alfred. „Leer irgendwie, leicht. Oder soll ich sagen: unwirklich?“

„Wir haben es geschafft“, sagte Franz.

„Ja, wir haben es geschafft“, wiederholte sein Freund und fügte nach einer Weile hinzu: „Ein erreichtes Ziel ist kein Ziel mehr. Was jetzt?“

„Ich weiß es nicht!“, antwortete Franz. Und in der Tat, es schien kein Morgen, keine Zukunft zu geben, nur diesen Augenblick auf dem Gipfel.

 

„Ich fühle mich so friedlich, seltsam erfüllt und gelassen. Am liebsten würde ich hier bleiben, in dieser Stille, auf diesem Berg“, sagte Alfred leise, als hätte er die Gedanken des Freundes gelesen.

„Hhmm“, brummte Franz. Er fühlte genauso.

„Mein Vater wird stolz sein. Und meine Mutter wird der Madonna eine dicke Kerze aufstellen, wenn wir erst wieder heil unten sind“, sagte Alfred.

 

Dann schwieg er. Auch Franz sagte kein Wort.

Zeit spielte plötzlich keine Rolle mehr. Normalerweise hält man sich nicht lange auf dem Gipfel auf, man macht sich sofort an den Abstieg. Aber weder Franz noch Alfred dachten daran, sich zu bewegen. Sie sassen nur da.

 

Der Himmel begann sich zu verfärben, die Sonne tauchte das Tal unter ihnen in ein mystisches Licht und ließ eine violette Dunkelheit entstehen. Der Mond war blass zu sehen. Immer noch war es still zwischen den Freunden.

 

Schweigend banden sie sich die Sicherheitsleinen um, schlugen einen Haken in den Fels und ließen die Karabiner einschnappen. Dann nahmen sie etwas von ihrem Proviant und aßen.

 

Nach einer Weile sagte Franz: „Der alte Moser hat recht, der Berg verändert einen. Ich habe ihn oft für einen Spinner gehalten, aber er hat recht!“, und schnell, als wollte er seinem Freund keine Gelegenheit geben ihn zu unterbrechen, sprach er weiter: „Als Kind habe ich geglaubt, dass Gott auf einem Berg wohnt. Dann wurde ich erwachsen und na ja.... Aber jetzt glaube ich, er wohnt wirklich hier. Ich kann ihn fühlen. Als Kind habe ich aus der Bibel die Geschichte am meisten geliebt, wo Gott dem Moses auf dem Berg erscheint. Ich träumte davon, auf den höchsten Berg zu klettern und dort Gott zu begegnen und seine Gebote zu empfangen. Gebote, die für die heutige Zeit passend sind.“


„Und welche Gebote wären passend für die heutige Zeit?“, fragte Alfred.


„Ach, die alten passen schon, nur die Sprache nicht mehr“, antwortete Franz und wurde dann lebhafter. „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Hab und Gut zum Beispiel. Es müsste heute heißen: ´Du sollst Länder und Völker, ihre Bodenschätze und ihre geringere Bildung nicht ausnutzen, um dich zu bereichern.´ Wir nutzen doch die armen Länder aus und achten diese Menschen nicht als vollwertige Menschen.“


Franz hatte sich richtig in Schwung geredet, als sein Freund ihn unterbrach: „Aber was bedeutet es für dich, dass Gott jetzt hier ist? Welche Gebote gibt er dir, dem Franz?“

„Mir? Ja, also...“, Franz konnte nicht antworten.

Alfred hatte sein Notizheft und die Taschenlampe aus dem Rucksack gekramt. „Halte mal die Lampe!“, forderte er Franz auf und begann zu schreiben: Die 10 Gebote, die wir auf dem Berg von Gott bekommen haben, schrieb er in sein Notizbuch.


1. Du sollst Länder und Völker, ihre Bodenschätze und ihre geringere Bildung nicht ausnutzen, um dich zu bereichern.
2. Du sollst tolerant sein gegenüber jedem Andersdenkenden und über keine Religion lästern, schlecht reden oder sie beurteilen.“

„Recht so?“, fragte er dann.

„Ja!“, stimmte Franz ein wenig beschämt zu, „Ich werde wohl doch helfen das Asylantenheim wieder aufzubauen.“

Es war bei einem Brandanschlag zerstört worden und Franz dachte damals, dass ihn die Sache nichts anginge. Im Asylantenheim leben überwiegend Moslems.


„Das Gebot: `Du sollst den Sabbat ehren` ist auch schwierig. Die Bärbel muss oft sonntags arbeiten, wie soll sie den Sabbat ehren?“, sagte er nun.

„3. Du sollst Zeiten der Stille einhalten, an denen du Gott gedenkst!“, schlug Alfred vor. „Gott arbeitet sicher nicht mit einem Terminkalender.“
„4. Du sollst allen Menschen, die dir in deinem Leben begegnen, die Ehre erweisen. Denn niemand begegnet dir ohne Grund!“, änderte Franz nun das Gebot: Du sollst Vater und Mutter ehren, um.

„Eltern habe ich ja keine mehr, im Gegensatz zu dir. Aber vom Moser habe ich viel gelernt, und mein Meister hat mir manche Lebensregel beigebracht, die nicht im Lehrplan stand. Und du, du bist mir ja auch nicht ohne Grund zum Freund geworden!“, fügte er hinzu und seine Stimme klang belegt.

 

„5. Du sollst nicht töten. Selbst Pflanzen und Tieren sollst du Dank sagen, weil sie dir als Nahrung dienen!“

 

Alfred überspielte die aufkommende Rührung. Er war Bauer und wusste, wie viel Arbeit zum `täglichen Brot` gehörte. Er liebte seine Tiere und seinen Weizen und sprach oft mit ihnen, wenn niemand ihn hören konnte.

 

So erstellten die beiden Männer in dieser Nacht auf dem Berg ihre eigenen Gebote. Sie nahmen sich vor:

  • kein Versprechen mehr leichtsinnig zu geben;
  • auf ihre eigenen Talente und Kräfte zu bauen, wenn es etwas zu erreichen galt;
  • Liebe und Sexualität als Geschenk anzunehmen, mit dem man achtsam umgeht;
  • über niemanden zu urteilen und keine Gerüchte in die Welt zu setzen
  • Gott zu ehren in allem was ihnen begegnet, denn ER ist allgegenwärtig.

Sie unterschrieben beide im Schein des Mondes, der Sterne und der Taschenlampe die Gebote und schwiegen dann.

 

Am nächsten Morgen, kaum dass die Sonne aufgegangen war, begannen sie den Abstieg. Sie sprachen nicht mehr als nötig und kamen still, ein wenig in sich gekehrt, aber sehr zufrieden im Tal wieder an. Die Menschen aus dem Dorf jubelten, ein paar Asylanten hielten sich in angemessener Entfernung, um den Empfang der Helden mitzuerleben. Die Helden aber blieben seltsam still und ein junger Bursche aus dem Dorf sagte: „Jetzt spinnen die auch. Der Berg macht verrückt, da steige ich nie hinauf.“

 

Nur der alte Moser sah die beiden Gipfelstürmer wissend an und nickte mit dem Kopf. Er wusste, einmal da angekommen, wo man hin will, einmal ein Ziel erreicht, einmal alle Hindernisse eines Weges überwunden und dazu dem Himmel so nah, das verändert. Danach ist man nicht mehr derselbe.

 

 

Impuls

Ich habe 10 Jahre lang eine Krankenpflegeschule geleitet.

Meinen Schüler/innen habe ich zum Abschluss der 3 jährigen Ausbildung oft eine Geschichte geschrieben. Da jeder Kurs ein Motto hatte, habe ich mich an das Motto gehalten.

Diese Geschichte schrieb ich für den Kurs 95/97,  das Motto war „Gipfelstürmer“.