Er schob ihr ohne ein Wort zu sagen das Päckchen neben den Teller. Darin lag eine lange Perlenkette mit reinen, edlen Perlen. Die Kette muss sehr teuer gewesen sein.
Sie würde dieses kostbare Geschenk nicht annehmen können. Wenn sie die Kette annahm, so dachte sie, würde sie gleichzeitig eine Verpflichtung, eine Bindung eingehen, vor der sie Angst hatte.
Lange hielt sie die Kette in der Hand, legte sie aber nicht um, sondern mit einem tiefen Seufzer wieder zurück in das schöne, mit tiefrotem Samt ausgeschlagene Kästchen. Mit einer entschlossenen Handbewegung ließ den Verschluss zuschnappen und schob das Schmuckstück über den Tisch wieder zu ihm hin.
Erst dann sah sie ihn an. Er hatte sie die ganze Zeit über beobachtet, ihr Mienenspiel verfolgt, aber kein Wort gesagt. Auch jetzt schwieg er. Kein Wort der Enttäuschung, keine Frage nach dem Warum.
Sie versuchte zu lächeln, etwas zu sagen. Aber das Lächeln misslang und die Worte waren nur Gestammel.
Er legte seinen Finger zart auf ihre Lippen und bat sie so zu schweigen.
Die Spannung zwischen ihnen war fast unerträglich und sie war froh, als er den Ober herbeiwinkte und die Bestellung aufgab. Das Essen war vorzüglich, aber sie hatte keinen Appetit. Die Perlenkette lag ihr im Magen. Sie sprachen während dem Essen kein Wort.
Erst als der Ober den Espresso gebracht hatte, brach er das Schweigen: „Ereignisse im Leben eines Menschen kommen und gehen wieder. Manche behalten wir im Gedächtnis, ganz bewusst, wir wollen uns erinnern. Damit geben wir ihnen Wert. Andere wollen wir vergessen und so zunichte machen. Aber sie sind da, immer noch da, immer noch als Erfahrung in uns und als Ereignis irgendwo in dieser Welt.“
Er sah sie an, mit diesem Blick, den sie noch nicht so recht deuten konnte. Lächelte er? Um seine Augen und seine Lippen lag immer so ein Zug, auch wenn er ganz ernsthaft sprach, der wie ein Lächeln wirkte.
Als sie ihn kennen gelernt hatte, hatte sie dieses Lächeln nervös gemacht und verunsichert.
„Sind Ereignisse wie Perlen auf der Kette?“, fragte sie schnell, um ihre Unsicherheit zu verbergen. Er sah toll aus und war ein Traum. Er sah zu toll aus, und würde ein Traum bleiben. Unerreichbar. Und einen Traum, aus dem sie weinend erwachte, brauchte sie nun wirklich nicht.
„Um diese Kette herzustellen, haben sicher tausend Muscheln ihre Perlen hergeben müssen.“, ging er auf ihre Frage ein. „Nicht alle sind in diese Kette aufgenommen worden, sie waren nicht rein genug und wurden verworfen oder anderweitig verwendet. Nur die wirklich edlen haben einen Platz auf dieser Schnur erhalten. Unter Schmerzen hat jede Muschel ihre Perle entstehen lassen. Warum die eine reiner geworden ist als eine andere, weiß ich nicht. Für die Muschel ist die Reinheit einer Perle kein erstrebenswertes Ziel. Ein Fremdkörper ist in ihr Inneres gelangt und sie will sich nur vor Verletzungen schützen. Also hüllt sie Schicht für Schicht das Unerwünschte ein, solange, bis es nicht mehr weh tut und auch nicht mehr als das erkennbar ist, was es ursprünglich einmal war. Es ist zu einer Perle geworden. Glatt und gleichmäßig. Für die Muschel nicht mehr wichtig, es tut jetzt nicht mehr weh. Aber für die Menschen plötzlich sehr interessant und von hohem Wert.“
„Willst du mir sagen, dass wir Menschen wie Muscheln sind und Erfahrungen, die wir machen und uns Schmerzen bereiten, uns letztendlich veredeln?“, fragte sie mit einem etwas spöttischen Unterton.
Er aber ließ sich nicht beirren, legte nur leicht seine Hand auf ihre fest ineinander verschränkten Finger und antwortete lachend: „Im Gegenteil, ganz im Gegenteil. Ich will sagen, dass wir Menschen uns leider nicht wie eine Muschel verhalten. Wenn etwas in uns hineinfällt, das Schmerzen bereitet, dann zerstören wir es so schnell wie möglich. Wenn etwas in unser Leben tritt, was in unserer Vorstellung, und oft nur da, schmerzhaft werden könnte, dann weisen wir es von uns, lehnen es ab. Wir lassen keine Perle entstehen. Wir machen genau das Gegenteil. Wüssten wir aber, dass alles, was in uns ist und uns zufällt, eine kostbare Perle ist oder werden kann, würden wir es dann nicht achten? Würden wir es nicht wie einen wertvollen Schatz hüten? Stolz darauf sein, es vielleicht vorzeigen und andere damit erfreuen? Aber wir wissen eben nicht, dass Perlen in uns sind. Viele schon vor der Geburt angelegt, andere im Laufe des Lebens in uns gewachsen, und es könnten immer mehr werden, wenn wir es denn zulassen würden. Leider tun wir das nicht. Schade, nicht wahr!“
Jetzt lächelte er ein wenig, aber mit einem Anflug von Trauer. Er schaute sie an, als warte er auf eine Antwort, als sei er bereit seine Darstellung zu verteidigen. Aber sie hatte keine Antwort parat.
Stattdessen bat sie ernst: „Erkläre es mir noch einmal! In uns gibt es Erfahrungen, Erinnerungen, die uns Schmerzen bereiten und die wir deshalb zerstören, bis sie nur noch Staubkörner sind und wir sie nicht mehr spüren?“
„Ja!“, sagte er. „Wir agieren oft vorschnell und beginnen fast panikartig mit der Vernichtung.“
„Man müsste es also eine Weile aushalten und beobachten“, sagte sie, „genau hinfühlen, ob es nicht am Ende eine Perle wird.“
„Dazu braucht es aber Mut und wahrscheinlich Geduld. Denn alles, was uns fremd ist macht Angst. Auf die Angst folgt Abwehr, fast instinktiv“, gab er zu bedenken. „Dabei ist es ja oft nur die Vorstellung, die uns Angst macht, noch gar kein konkretes Ereignis. Unsere Phantasie spielt uns einen Streich.“
„Okay, aber was willst du mir wirklich sagen?“, forderte sie ihn auf und beugte sich über den Tisch zu ihm hinüber. „Du willst mir ja etwas anderes sagen. Die Muschelgeschichte war ja nur eine Einleitung zur eigentlichen Lektion.“
Er lachte leise. „Wie gut du mich schon kennst, ich bin ertappt.“ Dabei legte er seine Hände offen auf den Tisch, als würde er sich geschlagen geben. Sie ging aber auf diese Geste nicht ein, denn es interessierte sie wirklich, was er ihr denn nun sagen wollte. Immer packte er Kritik oder Erklärungen schwieriger Sachverhalte in eine Geschichte. Genau genommen war es die Freude an seinen Geschichten, die sie veranlasst hatte, ihn näher kennen lernen zu wollen.
„Immerhin kennen wir uns schon mehr als ein Jahr“, sagte sie, und noch während sie es sagte, wurde ihr die Bedeutung ihrer eigenen Worte bewusst. Mehr als ein Jahr kennen sie sich nun schon, und dabei ist es spannend wie am ersten Abend, wenn sie zusammen sind. Mehr als ein Jahr - keinen Streit, keine Auseinandersetzung, viele heiße Diskussion zwar, die er meistens gewann, aber keine Unstimmigkeiten, und vor allem nie Langeweile. Selbst wenn sie stundenlang nebeneinander saßen und schwiegen, wenn jeder seinen Gedanken nachhing und keiner den andern drängte sich preiszugeben, war es nicht langweilig. Ihr Schweigen miteinander war voll Respekt vor dem Leben des anderen, war voll Zustimmung, egal welche Gedanken da auch gerade im Kopf des andern herumspukten. Es gab unendlich viel Freiheit neben dieser wunderbar vertrauten Nähe. Sie fühlte sich oft reich beschenkt durch seine Gegenwart und war dankbar.
War sie gerade dabei, dieses Geschenk des Lebens abzulehnen? Diesen kostbaren Schatz, diese Perle zu zerstören?
Ihr Blick war zu dem hübschen Schmuckkästchen gewandert, das immer noch auf dem Tisch lag. Als sie zu ihm aufschaute blickte er sie ernst an.
„Du bist in mein Leben getreten, fast wie ein Fremdkörper in eine Muschel. Meine Gefühle zu dir haben mir Angst gemacht. Die Vorstellung, mich an einen Menschen zu binden, Kompromisse machen zu müssen und Rücksicht zu nehmen, war mir unangenehm. Aber dieses Mal habe ich meine Ängste ausgehalten, statt unsere Beziehung im Keim zu ersticken.
Ich habe erkannt, dass es nur meine Vorstellungen waren, die mir Angst machten. Die Wirklichkeit, die Wirklichkeit mit dir, ist ganz anders. Das Wort `Vorstellungen` sagt es ja auch, es steht vor etwas, steht vor der Wirklichkeit und versperrt uns den Blick. Ich will nicht mehr in bedrückenden, einengenden Vorstellungen leben. Ich will nicht mehr auf die Vorstellungen starren und die Tür zur Wirklichkeit dahinter übersehen. Du bist eine Perle geworden in meinem Leben, schön und schillernd und mir sehr kostbar“, sagte er leise und nahm ihre Hände in die seinen. „Wahrscheinlich bereite ich dir auch Schmerzen, weil ich etwas Platz in dir beanspruche. Vielleicht missachte ich auch hin und wieder deine Grenze und mache mich zu breit, was dich zu erdrücken droht. In vielen Dingen sind wir einander noch fremd und alles Unbekannte macht eben Angst.“
Er schwieg. Sie auch. Der Ober kam zweimal an ihrem Tisch vorbei, war aber taktvoll genug, sie nicht anzusprechen.
„Ich habe den Mut gehabt, mich, als wir uns trafen, auf eine Fremde in meinem Leben einzulassen, habe mich geduldig und genau beobachtet und nun herausgefunden, dass es nicht weh tut. Im Gegenteil. Ich liebe dich und diese Liebe ist meine kostbarste Perle. Du bist eine Perle. Wäre ich nicht ein Narr, wenn ich nicht wenigstens versuchen würde, diesen Schatz zu behalten?“, fragte er.
Sie schwieg, zog das Schmuckkästchen wieder zu sich herüber und öffnete es. Die Perlen glänzten im Licht der Kerzen, die auf dem Tisch standen. Ja, auch manche Perlen in ihr sind kostbar und wunderbar.
„War das eben ein Heiratsantrag?“, fragte sie nach einer Weile leise. „Natürlich war das ein Heiratsantrag. Ich habe allerdings wenig Übung, beim nächsten Mal mache ich es besser.“ lachte er befreit auf. „Ich knie auch vor dir nieder und wiederhole es laut und unmissverständlich.“
„Untersteh` dich!“, drohte sie als er aufstand.“ Hilf mir lieber die Kette zu schließen.“
Sie hatte die Kette geöffnet und um ihren Hals gelegt, zitterte aber zuviel und bekam den Verschluss nicht zu. Seine Hände zitterten allerdings auch, als er die Kette schloss.
Der Ober brachte wenige Augenblicke später Champagner. Er war wirklich ein Meister seines Faches!